Der Ausflug

Das, dachte er, ist ganz schön raffiniert. Unterhalb des Gummifußes noch ein einzelner Spike, um mit den Krücken auch über Eis gehen zu können, ohne darauf auszurutschen. Die alte Schweizerin scob sich langsam über den Platz, konzentriert darauf, wohin sie den nächsten Fuß setzte, lagen ihre Augen auf dem grauen Asphalt, geschneit hatte es seit zwei Wochen nicht mehr, sie bauen jetzt, erzählte die Frau neben ihm, eine dieser Wintersporthallen wie in Dubai, unten im Tal, und die Frau schüttelte darüber den Kopf, riesengroß und überdacht, und Mendel schüttelte auch den Kopf, während sich die Plastikhalteriemen langsam in seine rechte Handfläche hineinschnitten. Immer mehr Menschen stiegen in den Bus, die meisten hatten Skier dabei, oder Snowboards, ein paar jüngere sogar diese Airboards, auf denen man sich bäuchlings legte und die Pisten hinunterflitzte, ohne wirklich bremsen oder lenken zu können, sperrig wie kleine Luftmatratzen. Mendel spürte, wie die Kanten fremder Skier in seinen Rücken gepresst wurden, als nähme eine Arzt an seiner Wirbelsäule Maß für ein Metallskelett, das seine schlechte, nach vorn gebeugte Haltung begradigen würde, und instinktib stellte er sich aufrechter hin, bog die Schultern etwas nach hinten und sah nach, ob die Alte immer noch da war. Sie stand jetzt am Brunnen und fuhr langsam mit der einen Hand durch das Wasser, dann strich sie sich mit ihr über den Nacken, Mendel begann zu schwitzen, der Innenraum des Postbusses war jetzt so voll, dass die Passagiere sogar auf den untersten Stufen an den Türen standen, bemüht, ihre Hintern einzuziehen, damit diese beim Schließen nicht eingequetscht würden. Worauf wartet der denn noch, sagte die Frau neben ihm kopfschüttelnd, und Mendel schüttelte bestätigend wieder seinen Kopf und blickte nach vorn, Richtung Bug - sagt man Bug bei einem Bus, überlegte Luis, aber der Fahrer hatte statt des Hinterkopfes ein Werbeplakat auf der Trennscheibe: ein leerer Bus in einer zugeschneiten Landschaft, dann stand da noch etwas darüber, was von der Zipfelmütze eines Mannes verdeckt war, Mendel konnte nur lesen: AUSFLIEGEN. Das, dachte er erneut, ist ganz schön raffiniert. Wir sagen, dass wir einen Ausflug machen oder unternehmen, die Schweizer machen daraus einfach ein Verb. Mendels Sonnenbrille beschlug jetzt langsam und Mendel pustete vorsichtig nach oben, als würde er eine wilde Haarsträhne aus der Stirn bewegen wollen, aber das brachte nicht wirklich eine Besserung. Mendel überlegte, ob er die Sonnenbrille abnehmen sollte, und fast, als hätte seine rechte Hand seinen Gedanken gehört, zuckte sie einfach hoch und tätschelte dabei zufällig einen Männerhintern, der rechts von ihm in einer Skihose steckte. Mendel erschrak über seinen, wäre das hier die Untergrundbahn in Tokio, sexuellen Übergriff, sie hatten dort sogar einen eigenen Ausdruck dafür, es war wohl auch auf manchen Strecken so schlimm, hatter er gelesen, dass sie eigene Frauenwaggons hatten. Erwischte man aber einen Grabscher in flagranti, bedeutete das für diesen eine Schande, die man besser mit einem Geldbetrag bereinigte, ein Zustand, den sich manche Jugendbanden dort auch als Geschäftsidee zu Nutze machten, in dem sie ihre weiblichen Mitglieder wohlhabend aussehende Männer lauthals anzuklagen und von diesem dann Schweigegeld zu kassieren, wie nennen die Japaner das noch, überlegte Mendel, das alles innnerhalb der schwitzenden Millisekunden, in denen er rot werden darauf wartete, das sich sein Grabschopfer empört umdrehen und ihm vor dem gesamten Bus eine schreckliche Szene machen würde, aber nichts passierte. Der Fahrer macht auch keine Anstalten, mal loszufahren, sagte die Frau neben ihm, aber Mendel schüttelte dieses Mal nicht den Kopf, sah nicht einmal in ihre Richtung, sondern der buschigen Katze zu, die auf die Brunnenmauer gesprungen war und anfing, das Wasser zu trinken, er war jetzt vom eigenen Schweiß unter der Thermounterwäsche so nass, dass er sich wünschte, ein Handtuch, ein kleines rotes vielleicht, würde ihn abtrocknen können - und dieses Jucken zwischen seinen Pobacken, was würde er für einen chinesischen Rückenkratzer tun, vielleicht den Kerl da mit dem Skihelm, der ihm ständig in die Seite rempelte, ein Stich zwischen die Rippen oder einen Kopfstoss verpassen, wobei mit dem Helm vielleicht keine gute Idee. Die Alte streichelte die Katze, kraulte sie unter dem Kinn, der Schwanz stellte sich steil in die Luft und Mendel stellte sich vor, die Augen hinter der Brille geschlossen, wie sich die rauhe Katzenzunge anfühlen würde, wenn sie ihm über die Haut kratzen würde, um das Schweißsalz abzulecken, daraufhin erfand er in seinem Geist einen neuartigen Rückenkratzer, der nur aus abgeschnittenen Katzenzungen bestand, taufte ihn "Kratzenzunge" und hatte die meisten Abnehmer dafür seltsamerweise in Japan. Fauchend schlossen vorne die Türen, der Busfahrer startete den Motor, bei den hinteren musste er durchsagen, bitte die Stufe zu räumen, und es wurde noch ein wenig enger, die Leute seufzten und runzelten die Stirn, die Frau neben Mendel schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, wahrscheinlich, dachte Mendel, ersticken wir alle, bevor wir an der Talstation ankommen, die Dachluken waren geschlossen, der Kerl mit dem Skihelm trat ihm auf die Füße, während er lautstark erzählte, dann würde er einfach freier Künstler werden, einfach moderne Kunst machen, und lachte. Mendel musste an den Traum denken, den er letzte Nacht gehabt hatte. Er hatte sich eine Pistole besorgt, um sich damit zu erschiessen. Er hatte jedoch gehört, dass man dafür am Besten den Mund voller Wasser haben sollte, damit der Suizid richtig funktionierte, jedenfalls tauchte er darum seinen Kopf in ein Aquarium, drückte den Abzug und sah sich danach auf dem Boden liegen, das Gesicht völlig unversehrt, aber blau angelaufen, ein Blau, als wäre der Wassertank mit ultramarin gefärbt gewesen, fast so wie der Speichersee, der gerade  links neben dem Elektrizitätswerk vorbeizuckelte, das, dachte Mendel, wird wohl der Schlüsselreiz für die Erinnerung eben gewesen sein. Der Bus fuhr nun in eine enge Serpentine herein, etwas zu schnell für Mendels Geschmack, er sah den Bus bereits den Berghang hinunterstürzen, das Innere wie eine große Schneekugel durchgeschüttelt, Kunstflocken aus Skianzügen, die übereinander fielen, zur Warnung hupte der Fahrer einen Dreiton, der allerdings defekt war: der zweite Hupton klang wie ein blökender Esel, dem man eine Schlnge um den Hals gelegt und diese enger gezogen hatte. Mendel sah auf den Schal, den der Kerl mit dem Skihelm trug, ein Fußballschal, irgendein Schweizer Verein in irgendeinem Schweizer Kanton, in welchem sind wir eigentlich gerade, fragte sich Mendel und versuchte, einen Blick auf das Nummernschild eines vorbeifahrenden Autos zu werfen, ohne Erfolg. Nicht ein Fitzelchen Schnee, sagte die Frau neben ihm und zeigte auf die 2800 Meter, so viel zum Thema Klimawandel, sie betonte das Wort Klimawandel, sagte es so laut, dass es mehrere Umstehende hören müssten und heimlich darauf warten würden, dass sie ihren Monolog weiterspinnen und sie jedes Wort aufnehmen würden, die Augen natürlich dabei starr aus dem Buspanoramafenster gerichtet, wie so üblich in öffentlichen Nahverkehrsmitteln, wo - wer kein Buch oder Zeitung oder Gameboy oder Handy besaß, auf das oder die oder den oder das man im Schoß schauen konnte - jeder das Gegenteil des Indianerspieles spielte, Mendel erfand dafür spontan den Ausdruck "Cowboyspiel" (nicht wirklich ein so treffender Ausdruck, gab es diesen Begriff ja bereits, kleine Kinder spielten Cowboy & Indianer oder Räuber & Gendarm), und die Frau neben ihm tat ihnen allen den Gefallen und fuhr fort: ich habe mich erst - wann war das - am Montag oder Dienstag - mit einem Freund unterhalten, der Meteorologe ist, und der meinte, er sagt ab jetzt nicht mehr Frühling, Sommer, Herbst und Winter, sondern Frühling, Sommer, Herbst und Sturm, weil - die Frau neben ihm schüttelte den Kopf - rein faktisch gibt es eben keinen Winter mehr. Auch nicht in der Schweiz, fügte sie nach einer dramatischen Pause hinzu, das, dachte Mendel, ist ganz schön unangenehm, hatter er erst heute morgen in der Titel-Schlagzeile der "Blick" die provokante Frage "Wieviele Deutsche verträgt die Schweiz?" gelesen und nun hatte der gesamte Bus - oder jedenfalls der schweizerische Anteil einen guten, blonden Grund mehr, diese Frage mit einem entschiedenen Ja! zu beantworten, wieder nichts von wegen Völkerverständigung, knirschte es zwischen Mendels Zähnen, und in seiner Fantasie sah er eine graue Taube mit einem Plastikstrohhalm für Trinktütchen im Schnabel durch den Regen herumflattern und vom Führerhaus eines Lkws erschlagen werden. In die Stille, die dem letzten Satz der Frau neben ihm folgte, schrie plötzlich die erdrosselte Eselsstimme wieder ihre Warnung den Hang hoch. ein kleines Kind flüsterte etwas auf rätoromanisch und lachte dann laut und o lange, dass die provokante Aussage der Frau neben Mendel darin unterging und die Aufmerksamkeit der Passagiere, die sich gerade noch wie eine Menschentraube um einen Kleinkünstler in der Fußgängerzone gesammelt hatte, verstreute sich, so dass am Ende nur Mendel und die Frau neben ihm übrig bblieben und sich ansahen, um irgendetwas zu sagen, murmelte er Jaja, schickte einen Seufzer als Punkt hinterher und lehnte sich dann mit all seinem Gewicht gegen die Skier in seinem Rücken, wollen wir, dachte Mendel, doch mal sehen, wer hier der Klügere ist, und dann fiel ihm einfach so das Wort ein, Chikan, das war es, lächelte Mendel, Chikan.