die kleine weint
so schlimm, dass es mir das herz zerreisst. steht da in ihrem roten
kleidchen und heult sich die seele aus dem leib. und niemanden interessiert
es, die rummelplatzbesucher laufen weiter, lecken an zuckerwatte,
halten sich verliebt an den händen, trinken bier, lachen oder zeigen
in den himmel, wo sich das riesenrad dreht. wäre mein akku nicht
leer, würde ich die polizei anrufen, aber es ist sowieso viel zu
laut hier, der mann von der losbude schreit ins mikrofon: jameinedamenundherrenzweilosefüreineuronureineurotolletollegewinnehiernureineuro,
drückt auf eine sirene, die aufheult, und wenn ich nicht so nah
an der kleinen stehen würde, könnte ich sie nicht weinen hören,
so laut ist es hier. ich berühre sie sanft an ihrer schulter, damit
sie sich nicht noch mehr erschreckt, hocke ich mich neben sie: na,
hast du deine eltern verloren? frage ich mitfühlend. die kleine
sieht mich mit zitternder unterlippe an, ihre schluchzer klingen,
als würde sie an etwas ersticken, sie nickt. und nickt und nickt,
hört gar nicht mehr damit auf. du arme, sage ich. sollen wir sie
suchen? die kleine nickt wieder, ein letztes mal. ich weiß nicht,
wie alt sie ist, da habe ich immer meine probleme gehabt, das richtige
alter zu sehen, komm, ich nehm dich an der hand, sage ich und halte
ihr die hand hin, nicht dass du mir auch noch entkommst, während
wir auf der suche sind, weil dann bist du ja zweimal verloren! ich
mache große augen und eine grimasse dazu, die kleine hört auf mit
dem weinen, ein kleines lächeln findet sogar seinen weg in ihr niedliches
gesichtchen, siehst du, sage ich, ist doch alles nicht so schlimm.
der mensch ist nämlich ein herdentier, erkläre ich ihr, während
wir über den rummel spazieren, ohh schau mal da, unterbreche ich
mich, da gibt’s magenbrot und gebrannte mandeln, sollen wir uns
eine tüte kaufen, ja? eine große, bitte, sage ich der dame mit dem
frauenbart, und später, hast du das gesehen, die frau hatte einen
schnurrbart, wie ein mann, und die kleine kichert und schiebt sich
mit glänzenden augen die mandeln in den mund, beißt krachend darauf
herum. wer lauter kann, sage ich und mahle die mandeln zwischen
meinen backenzähnen, hat gewonnen, und jetzt hüpft die kleine sogar
vergnügt herum, als hätte sie gar keine eltern mehr, sondern nur
spaß, spaß den ganzen tag spaß, das wär doch was, summe ich im kopf
und erfinde eine kleine melodie dazu, die ich ihr dann vorsinge,
spaß spaß den ganzen tag spaß, das wär doch was und ich nicke und
wackle mit dem kopf dazu, führe ihr sozusagen den spaßtanz vor,
aber ihre hand lasse ich dabei nicht los, nicht dass sie wieder
verschwindet und in der menge untergeht, achsoja, das habe ich vorhin
vergessen, fällt mir dann wieder ein, weißt du, der mensch ist ein
herdentier, weißt du was eine herde ist? die kleine nickt, okay,
super, und wenn ein mensch von seiner herde getrennt wird, also
stell dir vor ein kleines schäfchen bricht sich ein beinchen, dann
kann es natürlich nicht mehr der mama und dem papa und den onkeln
und tanten und freundes-schafen (hier lacht die kleine wieder) hinterhertrotten,
weil es ja verletzt ist. und die herde zieht weiter und das kleine
schäfchen bleibt zurück und stirbt, wenn man sich nicht darum kümmert.
vom wolf! ruft die kleine empört, der frisst das schaf! genau, sage
ich, ganz genau, gut aufgepasst, der wolf frisst das schaf, wenn
kein jäger in der nähe ist. wir kommen an der rummelplatzwache vorbei,
aber die polizisten sind wohl gerade beim würstchenessen oder betrunkene
schläger einbuchten, hmm, sage ich, was jetzt? weißt du was, sage
ich der kleinen, ich ruf jetzt einfach mal deine mama an, und hole
das handy aus der tasche. jaa, mama! aber nicht meine hand loslassen,
warne ich sie, nicht loslassen, so kurz vor dem ziel. ja hallo,
sage ich in den hörer, ich habe ihre kleine gefunden, ja genau,
ich nicke, sehe runter auf die kleine und forme mama mit den lippen,
ja natürlich kümmere ich mich um sie, es gab schon gebrannte mandeln
und das spaßlied, stimmts, frage ich die kleine und ziehe meine
augenbrauen hoch, jaaa! platzt es aus ihrer kehle und dann summt
sie wieder das spaßlied, wir beiden haben wirklich unseren spaß.
natürlich hält sie meine hand, deine mama sagt, du sollst nicht
loslassen, das musst du ihr versprechen, erkläre ich der kleinen,
sie sagt, du sollst jetzt erst mal mit mir mit kommen, sie kommt
dich dann abholen, okay? was, frage ich in den hörer, ich dachte,
wir malen erstmal bilder, ja filzer habe ich, nein wir stecken die
nicht in den mund - die kleine schüttelt entrüstet den kopf - doch
keine stifte, nur was gut schmeckt kommt in den mund, sicher, speckmäuse
oder sowas. na klar habe
ich eine badewanne...sicher mit ganz viel schaum, da können wir
eine richtige schaumschlacht machen, wenn sie das sagen, hast du
darauf lust, frage ich die kleine, so ne richtige schaumschlacht
in der badewanne und dazu schokolade? jaaa, singt es aus ihrem herzen,
schokolade! und während wir zu mir nach hause gehen, hüpfen, singen,
springen, sage ich ihr immer wieder, was für ein glück sie hatte,
obwohl sie die herde verlassen hat, habe ich sie gefunden und zum
dank drückt sie meine hand mit ihrer fest, so fest wie sie kann,
als wolle sie nie wieder loslassen und ein zweites mal verloren
gehen.
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