Die Leiche

Als es lächerlich wurde, ging seine Frau ohne Unterwäsche unter ihrem Kleid aus dem Hotelzimmer, knallte die Tür tatsächlich hinter sich zu, während Luis Mendel auf dem Bett sitzen blieb.
"Sie muss wiederkommen", dachte er als erstes, "sie muss, denn sie hat den Schlüssel nicht mitgenommen."
Der Schlüssel steckte samt Plastikkarte neben der Tür in einer elektronischen Apparatur - nur wenn die Karte in einen Schlitz geschoben und ein innenliegender Kontakt geschlossen wurde, hatte man Strom und konnte das Licht anschalten. Mendel setzte sich auf die Seite des Bettes, auf der er schlief und sah sich im Zimmer um. Schrank, Wand, Spiegel, Wand, Ecke, Tür, Ecke, Wand, Klimaanlage, Bett, Balkon. Noch einmal, dachte er, streckte den rechten Arm samt Zeigefinger waagrecht von sich weg und blickte mit dem rechten Auge darüber hinweg, als würde er mit einem Gewehr auf etwas zielen.  Noch einmal andersrum, dachte er und begann laut das Aufzählen: "Balkon, Bett, Klimaanlage, Wand, Ecke, Tür, Ecke, Wand, Spiegel, Wand, Schrank." Dann stand er auf, stellte sich vor den Spiegel und musterte sich, wie er sich selbst musterte. Er zeigte mit dem Finger auf sich, ohne den Blick aus der Reflektion zu nehmen und sagte: "Ich." Seit sie im Hotel eingecheckt hatten, war er nie alleine im Raum gewesen. Die Sonne hatte ihm bereits kleine Pickel in die Poren getrieben. Er legte seine Stirn in falten und zählte. Eins, zwei, drei, vier. Dann zählte er auf spanisch. Uno, dos, tres, cuatro. Es war keine neue hinzugekommen, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, außerdem hatte Mendel bis heute noch nie seine Stirnfalten gezählt, und er fragte sich, ob das etwas mit seiner Frau zu tun hatte. Vorsichtig drückte er auf einen besonders großen Pickel am Kinn, er schmerzte, draußen fuhr ein Krankenwagen vorbei, mit der Sirene eines billigen Spielzeugautos.
Unser Hotelzimmer, dachte er, dann wurde die Sirene immer lauter, und er hoffte, dass seiner Frau nichts passiert war. Sie würde wiederkommen, wahrscheinlich müsste sie klopfen.
"Ohne Unterwäsche", dachte er, dann sah er aus dem Balkonfenster hinaus, als würde er auf eine Postkarte schauen.
"Eine Frau mit einem kurzen schwarzen Kleid ohne Unterwäsche steht vor der Tür des Zimmers eines Mannes." Liebesfilme hatten solche Szenen, manche Träume oder Pornos auch.
Der Schlüssel steckte immer noch in der Vorrichtung, eine geniale Idee, wie Mendel nun fand. Als sie zum ersten Mal ins Zimmer gekommen waren und sie fälschlicherweise festgestellt hatte, dass das Licht und der Strom nicht funktionierten, hatte sie Luis sofort hinunter an die Rezeption geschickt, um sich zu beschweren. Wenn sie nicht vor dem Abendessen zurück war, konnte er ihn ja immer noch dort für sie hinterlegen. Dann fiel ihm ein, dass sie irgendwo im Hotel hocken konnte, vielleicht weinte sie im Treppenhaus oder lachte mit einem englischen Touristen an der Bar und erzählte ihm kichernd, dass sie nichts unter ihrem Kleid tragen würde - oder sie war doch in die Stadt geflohen, in ein anderes Hotel, mit seiner Kreditkarte und einem holländischen Touristen. Er ging auf den Balkon hinaus, um nachzusehen, ob ihre roten Haare aufblitzten, zwischen dem Hafen, den Häuserdächern und den Bäumen.
"Es wird dunkel", dachte er, "am besten mache ich das Licht hier im Zimmer an."
"Vielleicht", dachte er weiter, "verirrt sie sich ja und sucht mich dann - oder das Hotel, dann wäre das Zimmer sowas wie ein Leuchtturm und ich der Wärter", und er formte beide Hände zu einem Fernglas und blickte durch die linsenlosen gekrümmten Finger.
"Ich habe sowieso kein Hunger", dachte er noch weiter, "der Apfel aus der Strandtasche müsste ausreichen." Er strich eines der Handtücher glatt, die sie über die Brüstung zum Trocknen gehängt hatte, es war weiß und groß, gut zu sehen, wenn man unten auf der Strasse stand.
"Ein Glück hat sie den Schlüssel nicht mitgenommen", dachte Mendel, denn ohne Schlüssel kein Strom ohne Strom kein Licht ohne Licht kein Leuchtturm, der sich im Kreis dreht und sein Licht in jeden Winkel wirft, nur nicht unter das Bett, fiel ihm ein, und er musste grinsen, denn bis jetzt hatte er noch nicht unter das Bett gesehen, vielleicht lag da ja eine Leiche und sie hatten es nur noch nicht bemerkt.