Vergiß mein
nicht
'Dein Freund
ist Winter' schreibe ich mit meiner rechten Hand in den Schnee
auf dem Autodach, in großen Buchstaben, damit sie alle im Haus
es lesen können, wenn sie aus dem Fenster schauen, es wohnen
laut Klingelschilder genau sechs Paare in den drei Stockwerken,
aber diese Nachricht ist für Anselm / Weinhoff im zweiten Stock,
genauer, Anselm, Yvonne, die sich, rufe ich sie an, eben so
meldet, und weil sich ihre Stimme im Gegensatz zu "Weinhoff
hier" warm und frisch anhört, ist diese Nachricht nur für
Anselm, Yvonne gedacht, natürlich könnte Weinhoff hier auch
aus dem Fenster auf den eingeschneiten Volvo-Kombi sehen, wenn
er nur hier wäre, ich habe mir extra einen Kombi geliehen, weil
das Dach so wunderbar breit ist, zudem hält die Standheizung
mich warm, wenn ich am Steuer sitze und warte, bis Yvonne nach
Hause kommt, meistens zähle ich von 50 abwärts, bis ich sie
mit dem Mobiltelefon anrufe und ihrer freundlichen Stimme sage,
sie solle aus dem Fenster sehen, wenn ich danach gleich auflege,
schrumpfe ich auf dem Sitz zusammen und schaue in den Taschenspiegel,
den ich immer mitbringe, der mir ihr erleuchtetes Fenster wie
ein kleinen Fernsehbildschirm zeigt, und halte die Luft an,
wenn sich ihre schmale Silhouette aus dem gelben Licht schält,
sie weiß genau, wohin sie sehen muss, nach den ersten drei Nachrichten
hat sie die Konstante erkannt, sie sucht auch nicht mehr mit
dem Kopf links und rechts nach mir, vielleicht dachte sie, ich
wäre ein guter Sprinter, weil die Strasse immer leer ist - das
ist wichtig für mich, schließlich soll nur Anselm, Yvonne ihre
persönliche Nachricht lesen, das wäre vergleichbar mit dem Briefgeheimnis,
da bin ich sehr gewissenhaft, jedenfalls sucht sie nicht mehr
nach dem Absender des Schneebriefes, ich könnte ihr langsam
Gleichgültigkeit oder ungenügend Hartnäckigkeit vorwerfen, schließlich
könnte ich schon etwas mehr Aufmerksamkeit erwarten und Neugier,
das flüstere ich dem Spiegelfernseher auch zu, ich sage "ein
jeder Mensch ist neugierig, Yvonne", ich nenne sie abwechselnd
Yvonne oder Frau Anselm oder, wenn sie fast resigniert den Kopf
schüttelt, sogar "Mädchen", ich sage, "Das liegt
in der Natur des Menschen, denn Frau Anselm, wo wären die Menschen
jetzt, wenn die Neugier nicht Adam und Eva letztlich aus dem
Paradies vertrieben hätte, wo wären wir dann, Yvonne?",
wenn ich mit ihr rede, kippe ich den Spiegel zu mir und sehe
dabei zu, wie meine Lippen sich durch die geflüsterten Worte
kontraktieren und entspannen, sich wölben, zurückschnappen,
spalten, zwei rote faltige Tiere bei einer komplizierten Paarung,
die da im Schatten meiner Nase stattfindet, "Dann wäre
Feuer für uns ein Gemälde auf dem Dach oder ein Tier, das uns
mit lodernden Zähnen beißt, doch nur dann, wenn wir mit ihm
spielen wollten, aber, Yvonne, ich kann dich trösten, denn ich
sage dir, Neugier ist erlernbar, wenn es jemanden gibt, der
an dich glaubt, der daran glaubt, dass er auch die schlafende
Neugier, eingeschlafen vom Trott einer Welt ohne Überraschungen,
in dir erwecken kann, bis sie sich streckt und wendet, das Gefühl
kommt über den Bauch, es erwacht da, wo der männliche Samen
mit deiner Eizelle verschmelzen und eine neue Anselm / Weinhoff-Beziehung
zum Leben erwecken würde, die, von Neugier getrieben, sich ihren
Weg durch deine Vagina und später durch dein Herz treten würde,
also verzagen Sie nicht, Frau Anselm, denn ich kann und werde
Ihnen helfen, vertrauen Sie auf Gott, auch wenn manche singen,
er wäre nur der Teufel mit einem weißen Bart, doch dieser Gott
wandelte mich in den neuen Baum in diesem Paradies um, und diese
meine Früchte der Erkenntnis, die aufs Neue stets erwachsen,
stelle ich Ihnen zur Verfügung, greifen Sie nur zu und pflücken
Sie die Früchte meiner Arbeit, und ich versichere Ihnen, falls
Sie Bedenken haben, mir Schmerzen zuzufügen, kann ich Ihnen
auch diese Befürchtung abnehmen, oh, es wird mir ein Vergnügen
und eine große Ehre sein, Ihnen meine Früchte zu schenken, so
dass mein Samen auch einen blühenden Baum aus Ihnen macht!",
und weil ich ihr meine Worte ins Ohr flüstere und ich weiß,
dass sie alles hören kann, was ich ihr sage, bin ich glücklich,
doch hin- und wieder erglimmt in mir Zorn und Argwohn darüber,
dass sie mich nicht verstehen will, dass sie allzu passiv meine
Wahrheit hinnimmt, als wäre ich eine lästige Fliege, die in
ihrem Zimmer hin- und her summt, und nie zu töten ist, weil
sie unsichtbar über ihr ungemachtes Bett mit der dunkelblauen
Nachtwäsche unter dem Kopfkissen surrt, vorbei an dem schrecklichen
Kunstdruck, ich denke nicht, dass du den Schrei von Munch über
die Spüle hängen solltest, Mädchen, denn diese Art von Ironie
würde nur zu ungespültem Geschirr, das sich auf dem runden Biedermeiertisch
stapelt, passen, doch Frau Anselm, Ihre Küche ist stets aufgeräumt,
die Ceranplatten gewischt, ich werde mir ein passenderes Bild
überlegen und Ihnen besorgen und austauschen, Sie werden zufrieden
und überrascht sein, wie gut ich Ihren Geschmack getroffen habe.
Ich mag Kürbiskerne, auf dem Beifahrersitz habe ich immer eine
frische Packung liegen, die ich mit dem Teppichmesser an der
Perforierungsmarkierung längs aufschneide, die Schalen werfe
ich in den Aschenbecher, schließlich kann nur aus Ordnung Geordnetes
erwachsen, das habe ich von Anselm, Yvonne gelernt, "wissen
Sie, Frau Anselm, Sie haben mich in diesem Punkt eindeutig und
komplett überzeugt, ja, ich kann sagen, Sie waren sozusagen
der Lehrmeister und Erschaffer meiner neuen Religion, ich hoffe,
Sie können mich als ihren dankbaren Schüler akzeptieren, der
seiner Prophetin einzig und allein seine Bewunderung ausdrücken
möchte", ich würde ihr das gerne schreiben, doch
will ich nicht die falschen Worte benutzen, die sie falsch verstehen
könnte, zudem ist das Autodach ein zu kleiner Platz für die
Gedankenflut, die sich aus meiner Hochachtung ergießen würde,
ich frage mich, ob Weinhoff hier sich seiner wunderbaren Partnerin
bewußt ist, weiß er, welch göttlich ordnende Kraft und Energie
mit ihm lebt ? Wahrscheinlich nicht, seine emotionalen Fühler
sind verkrüppelt, seine Ohren, die ihm nicht den Hintersinn
und die Gesetztafeln der Omnipotenz dieses weiblichen Universums
übersetzen sollten, haben jene Sprache nie gelernt, und selbst
seine Augen müssen von innen zugefroren sein, so wie er sich
am Telefon meldet, und doch bist du so gütig zu ihm, Yvonne,
räumst ihm eine Chance nach der anderen ein, kannst ihm sein
Unverständnis verzeihen, über seine menschlichen Fehler hinwegsehen,
auch das ist so bewundernswert von dir, Yvonne! Wieviel Du dich
selbst für deine Liebe zurücknehmen mußt! Heute kommt Frau Anselm
um 22:34:56 Uhr nach Hause und schließt unten die Haustüre auf,
im Treppenhaus erwacht das Licht zum Leben, und ich zähle nun
von fünfzig herunter, nachdem ich die Kürbiskerne mit Tesafilm
luftdicht zugeklebt habe, und dann sehe ich im Fernsehspiegel
das Wohnungsfenster warm erglühen, ich gebe ihr Zeit, ihren
Kaschmirschal über die dunkle Garderobe zu hängen und den MIELE-Wasserkocher
anzuschalten, bis ich schließlich ihre Telefonnummer wähle.
"Anselm, Yvonne ?" "Schau aus dem Fenster."
"Ich weiß, dass du's bist, Richard. Ich habe deine Stimme
erkannt." "Ich bin nicht Richard" "Natürlich
bist du's. Hör auf, mich ständig anzurufen und diese blöden
Sachen in den Schnee zu schreiben. Wir sind nicht mehr zusammen,
und ich werde auch nicht mehr mit dir zusammen kommen, egal
was du tust. Hast du das jetzt ein für allemal verstanden?"
"Aber ich bewundere Sie doch nur, Frau Anselm." "Hör
auf mit diesen Anrufen, nochmal sage ich's nicht, beim
nächsten Mal rufe ich die Polizei an. Vergiß´mich, das mit uns
ist vorbei, ich habe dich auch schon vergessen. Kapier' das
mal. Ich bin glücklich und du bist einfach --" Ich habe
den breiten Knopf mit dem waagerechten Strich gedrückt, das
Mädchen hört endlich auf, falsche Dinge zu sagen, das tut meinen
Ohren nicht gut, sie schmerzen und brennen und fühlen sich heiß
und taub an, ich öffne die Wagentüre, um sie in den Schnee zu
pressen, nehme eine Handvoll vom Dach, zerstöre so die Buchstaben,
und stopfe mir die Kälte in beide Ohren, und es wird besser,
ich kann wieder hören, was das Teppichmesser gerade zu mir sagt,
es sagt "Vergiß mein nicht.", und ich lasse es wie
einen Lieblingshund an meine Hand lecken und merke, dass es
Auslauf braucht, also mache ich die Autotüre zu, von außen mit
der Fernbedienung und mache mir ein Spiel daraus, in Frau Anselms
Fußspuren zu treten, die mich zur angelehnten Haustür führen,
eine schön geordnete Bahn, der ich natürlich folge.
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