Vogel Strauß

Ich sah den Mann, eigentlich nur den Unterkörper des Mannes, den Rest hatte er in eine breite grüne Tonne hineingereckt, als wir mit dem Wagen in die Einfahrt bogen. Wir waren vielleicht eine halbe Stunde im Laden, und als wir den vollgepackten Einkaufswagen herausschoben, war er immer noch da, ein Vogel Strauß vorm Shoppingcenter. An einer der Tonnen lehnte ein altes Fahrrad, auf dessen Gepäckträger eine lattige Sperrholzkiste geschnallt war. Ich dachte mir, dass dieses Fahrrad dem Mann gehörte, ich ging davon aus, dass es ein Mann war, da seine graue Stoffhose über den Lederschuhen etwas zu kurz war und unten an den Knöcheln nach oben gerutscht war und dünne, spiralig-weiße Beinhaare zu sehen waren. Ich schloß das Auto auf und öffnete den Kofferraum: aus dem Inneren des Espace wallte Hitze heraus, an diesem Tag und den letzten hatte der Sommer ganz Norddeutschland mit seinem Glutzeichen gebrandmarkt, und der Parkplatzasphalt brütete unser Auto wie ein Metallei aus. An meiner Sonnenbrille schlug sich der Schweiß nieder, als ich unsere Einkäufe verstaute, hinter mir sagte D. , die Hitze, diese scheiß, mache sie fertig, und ich nickte und schwitzte in meine morgens frisch angezogenen Kleider und fluchte, während ich die Getränkekisten mit dem kalten Sekt und dem Wein und dem Bier hin- und herschichtete, als wäre ich -so schien es mir - ein Möbelpacker im Vorhof der Hölle, und dann hörte ich D. sagen, sie müsse noch einmal in das italienische Geschäft, um die schwarzen in Öl eingelegten Oliven zu besorgen. Wieder nickte ich vor mich hin, zu erschöpft, ein Wort zu sagen, ja nur den Mund zu öffnen, weil sich die Hitze, diese scheiß, sonst wie ein ungebetener Gast in meinem Körper häuslich einrichten könnte, und stopfte dann die letzten beiden Tüten neben die restlichen Einkäufe und schloß die Kofferraumtür mit einem prüfenden Blick übers Gelände, als würde ich unbewußt auf Wegelagerer warten, die die Wagenburg überfallen und unsere Produktschätze rauben würden, und wieder fiel mir der Mann in der Tonne - Diogenes, dachte ich kurz, Diogenes heute - ins Auge. Seine Arme waren am Arbeiten, das verschwitzte Karohemd zog an der Seite Falten, ich an einer Zigarette, die ich aus meiner Brusttasche genommen und angesteckt hatte, und ich stand derweil in der Sonne, die zur Mittagszeit keinerlei Schattenzelte aufgebaut hatte und wartete, und dann ging eine Bewegung durch den Mann und er tauchte hoch, zuerst wuchs ein fleckiger Nacken aus dem Tonnenrand heraus, gefolgt von dürrem wirren Haar, im gleichen Farbton wie seine Beinhaare, in seiner rechten Hand hielt er etwas, er hielt es vorsichtig, das konnte ich sehen, und mit der Neugier von Schaulustigen am Meer, wenn ein Taucher mit seiner zappelnden Beute am Drahtgürtel, oder ein Fischer am Pier mit Plastikeimer in der Nähe sind, ging ich einige Schritte nach vorne, um den alten Mann, er war alt, jetzt hatte ich auch kurz sein Gesicht gesehen, 60 Jahre mindestens, dachte ich, aber wahrscheinlich älter, jedenfalls brachte ich mich in eine Position, die etwas näher war, und beobachtete ihn mit Sorgfalt, als wäre er ein seltener Vogel, der mit einem einzigen Flügelschlag verschwinden könnte. Das Etwas in seiner Hand machte ich als Plastikbüchse aus, mit weißem Inhalt, bei genauerem Hinsehen erkannte ich eingelegten Fisch, die Art von Dosen verkauften sie nebenan im Laden, Sahnehering soundso, den genauen Namen hatte ich vergessen, und nun öffnete der Mann die Dose, zog den durchsichtigen Deckel ab und tunkte mit seinem rechten Zeigefinger in den Inhalt, nahm ihn wieder heraus und steckte ihn in den Mund, nickte dann, verschloß die Dose wieder und legte sie in die Kiste auf seinem Fahrrad. Ich folgte seinen Körperbewegungen, und  erst jetzt, wahrlich spät, wie ich bemerken muß, deutete ich die anderen Tonnen und die Hauswand dahinter als zusammen-gehöriges Gebilde, als Rückseite des Ladens mit Mülltonnen, in denen die  abgelaufenen Essensreste entsorgt und nun von dem Mann durchsucht wurden. Ich stellte mir das Bild unter dem hochgeklappten Deckel vor: dutzende offene, durcheinandergemischte Abfälle, Saucen und Fleischstückchen, Fruchtbatzen, Käseschlieren, die in der Tonne vor sich hin gammelten, stanken, lebten, einen einzigen großen Klumpen formten, in dem sich Maden und Fliegen, Würmer und Salmonellen ein Festmahl bereiteten. Die Sonne hatte den Klumpen sicherlich bereits eingekocht und krankmachende Erreger freigesetzt, aber der Mann war bereits wieder untergetaucht, mit seinem suchenden Kopf und den Schnabelhänden, die die Leckereien wie kostbare Schätze aus dem dampfenden Brei hervorpickten. Mir schwankte im Kopf herum, dass ich Opfer einer Luftspiegelung, eines Hitzeödems von Wahnsinnigkeit oder ähnlichem sein könne und beschloß, jene Vermutung auf die Probe zu stellen und mit dieser Flimmerkopf-Gestalt zu reden, doch als ich vielleicht noch fünf Schritte von meinem Sommergespinst entfernt war, stockte ich: eine zweite Gestalt war plötzlich aufgetaucht und hatte einen weiteren Abfallbehälter geöffnet, dessen Innereien von diesem Mann - es schien mir fast derselbe zu sein - inspiziert wurden, doch das nicht für lange Zeit, ein strafender zischender Blick des anderen, der seine Tonne nun mit seinem Körper und seinem Leben beschützte, verjagte ihn. Nun, noch verwirrter, als ich ja bereits gewesen war, wollte ich wieder umdrehen und zum Wagen zurückgehen, dem Mann in der Tonne meinen Rücken mitsamt meiner Gedanken zudrehen und warten, bis D. zurückkommen und wir den Parkplatz verlassen würden, doch gab ich mir einen Ruck und marschierte zielstrebig auf den Müllmann zu, bis ich dicht hinter ihm stand. -Suchen Sie hier etwas zu essen?, sagte ich dann, wohl ein wenig zu forsch, denn der Oberkörper des Mannes zuckte erschrocken zusammen, aber den Kopf ließ er in der Tonne, ja, steckte ihn noch tiefer hinein, als würder er sich ganz in den Tiefen verkriechen wollen, er hatte mich sehr wohl gehört, vielleicht dachte er, ich würde ihm etwas wegnehmen oder ihn wie ein wildes Tier verscheuchen, ich weiß es nicht, jedenfalls wiederholte ich die Frage, etwas vorsichtiger, und schließlich tauchte er mit dem Kopf nach oben auf. Er hatte eine Hornbrille mit sehr dicken Gläsern auf, die seine Auge um ein dreifaches vergrößerten, seine Gesichtshaut war rot angelaufen vom gestauten Blut und der Hitze, und ich bemerkte, dass er wirklich Angst vor mir zu haben schien, er suchte den Abstand zu mir und hielt sich erst am Griff der Tonne fest, dann senkte er den Kopf und machte sich mit fahrigen Händen an seinem Fahrrad zu schaffen, überprüfte den Halt der Holzkiste.- Sie können das nicht essen, sagte ich, diese Sachen sind abgelaufen und schlecht, wahrscheinlich liegen sie schon den ganzen Tag in der Sonne. Zusätzlich meiner Rede umschrieb ich das Gesagte mit Gesten, aber der Mann - wie mochte er wohl heißen? - hatte schon verstanden und schüttelte den Kopf. - Nein nein. Das ist noch gut. Sein Mund hatte sich beim Sprechen weit geöffnet und die Worte verzerrt, als würde er in einen Trichter sprechen, aber es lag daran, daß er nur noch wenige Zähne im Mund sitzen hatte, wobei es sich eher um Stummel handelte, und die Vokale rutschten über das blass-gelbe Zahnfleisch durch die Lücken hindurch. Er sah mich nun direkt an, mit seinen vogelartigen Augen fixierte er mich wachen Blickes und obwohl der Mann kleiner und schmächtiger gebaut war als ich, machte mich die nun plötzlich entstandene Nähe, die Aktivität seines Hauptes nervös und unsicher, fast wollte ich glauben, was er da sagte. Ich schüttelte den Kopf und blickte in die Holzkiste, in der sich bereits drei Dosen Sahnehering soundso befanden, der Mann beobachtete mich weiter, ich schien ihm keine Bedrohung mehr darzustellen, und dann sah ich D. über den Parkplatz kommen, in Richtung des Wagens. - Ich gehe dann wieder, sagte ich überstürzt, im Bannkreis seines schräg gelegten Kopfes, darf ich Ihnen die Hand geben? -Warum? fragte der Mann, und ich antwortete: Geben Sie mir einfach nur die Hand. Zögerlich streckte er mir die Rechte entgegen, und ich nahm sie mit meiner Rechten und ließ den Geldschein, den ich während des Gesprächs in meiner Hosentasche umklammert hatte, in seine Handfläche wandern, und als der Mann es realisiert hatte und den Schein in der Hand hielt und ihn ansah, schüttelte er wieder den Kopf. - Nein. Das geht nicht. - Doch. Kaufen Sie sich etwas Frisches, Kühles. Nicht das Zeug hier, das ist schlecht. Wenn Sie das essen, werden Sie krank. Der Mann schwieg mich an und musterte mich weiter, erwartete er einen Haken an der Sache ?, bis er schließlich sagte: - Das ist selten geworden. Es ist Großmut, und das ist selten geworden. Ich nickte, denn seine Worte schienen für mich eine Klarstellung, eine unabrückbare Tatsache, so wie er es gesagt hatte, ein Weltgesetz, etwas, das ein Lehrmeister als Weisheitsformel offenbahrt offenbahrt, und dem man fraglos vertraut, und dann gab er mir wieder die Hand und schüttelte sie zum Abschied fest, als würden wir uns seit vielen Jahren kennen, dann drehte ich mich um und ging zum Wagen zurück, in dem bereits D. saß und alles beobachtet hatte, und fragte, was gewesen sei und sagte, sie hätte gedacht, ich würde Streit anfachen mit dem Mann, und was er da gemacht hätte und ich sagte fahr los, und das tat sie dann auch, und als wir aus der Einfahrt bogen, sah ich den Mann zum letzten Mal, er hatte die rechte Hand gehoben und winkte uns zu.